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Kolumne: Keine Minderheit – eine von 65 Millionen

Die Welt ist nicht schwarz-weiß. Wir Menschen lieben es zu feiern und zu protestieren, wollen die Erde retten und shoppen trotzdem online. Dabei setzen wir den Planeten in Brand. Die Klimakrise ist DAS Thema unserer Zeit. Miriam Scharlibbe legt den Finger auf den wunden Punkt und schaut dorthin, wo es wehtut: in den Spiegel. Sie kritisiert die Verschwendung und Verzerrungen des Kapitalismus, Gedankenlosigkeit und mangelnde Nachhaltigkeit – und hadert dabei ständig mit sich selbst.

„Ihr da oben – wir hier unten“, mit diesem Buch eines gewissen Günter Wallraff bin ich aufgewachsen. Die Geschichten vom Reporter, der als Arbeiter, Verkäufer oder Bote verkleidet auf die ungleiche Geldverteilung in der Gesellschaft aufmerksam machte, hatte mir mein Vater erzählt, lange bevor ich selbst den Wunsch hatte, Journalist zu werden.

Das Ausmaß des Widerspruchs zwischen der Anhäufung von Reichtum und Macht der Wenigen und der Abhängigkeit und Ausbeutung der Vielen, durch direkte Beobachtung transparent gemacht, passte zum Weltbild einer Familie aus dem Ruhrgebiet. Harte Arbeit, mein Großvater, ein Bergmann, nannte es „Maloche“, die trotzdem nur so viel Geld einbrachte, dass eine Familie irgendwie über die Runden kam, das war die Realität.

Jahrzehnte später sind es vor allem Populisten, die von „denen da oben“ sprechen: „Die da oben sind schuld.“ „Die da oben bereichern sich auf Kosten des Volkes.“ „Die da oben scheren sich nicht um den kleinen Mann.“

Was Rechts- und Linksextremisten nicht sagen, ist, wie sich diese angebliche Machtstruktur ändern lässt. Stattdessen bedienen sie sich weiterhin der Erzählung, dass eine sehr kleine Gruppe von Menschen über das Leben aller anderen entscheidet. Grund genug also, sich einige Zahlen anzuschauen.

1,1 Millionen Deutsche sind Mitglied einer Partei

Tatsächlich gehören dem Deutschen Bundestag derzeit 733 Abgeordnete an. Damit ist unser Parlament so groß wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Bei seiner Gründung waren es sogar noch drei Abgeordnete mehr. In Deutschland leben 84,6 Millionen Menschen, aber nur etwas mehr als eine Million davon sind Mitglied einer Partei. Dabei ist es egal, welcher. Ja, Sie haben richtig gehört. Alle Parteien in Deutschland haben zusammen rund 1,1 Millionen Mitglieder.

Die Behauptung, dass ausschließlich Berufspolitiker und ihre Gefolgschaft die Regeln unseres Zusammenlebens bestimmen, ist schlichtweg falsch.

Bierkauf mit 16: ja – Wählen: nein

Bei der Bundestagswahl 2021 waren knapp 61,2 Millionen Menschen aufgerufen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Davon gingen knapp 47 Millionen Menschen wählen, was einer Wahlbeteiligung von 76,6 Prozent entspricht. Bei der Wahl zum Europaparlament am Sonntag sind in Deutschland bis zu 64,9 Millionen Menschen wahlberechtigt, darunter 33,3 Millionen Frauen und 31,7 Millionen Männer.

Wie kommt der Unterschied zustande? Neben Deutschen sind auch andere Bürger der Europäischen Union (EU), die in Deutschland leben, zur Wahl aufgerufen. Am wichtigsten ist, dass das Wahlalter erstmals bei einer EU-Wahl in Deutschland gesenkt wurde. Mit 16 Jahren darf man Bier kaufen, Moped fahren und hat möglicherweise schon einen Schulabschluss.

Seit diesem Jahr dürfen die Menschen auch wählen, zumindest im Europaparlament. In Österreich, Malta und Belgien gilt die gleiche Regel, in Griechenland wurde das Alter auf 17 Jahre gesenkt. In Deutschland betrifft dies zusätzlich 1,4 Millionen junge Wähler.

„Alle diese Leute haben Macht, unabhängig von ihrem Bankkonto oder ihrem Beruf. Sie können diese Macht nutzen, um zu entscheiden, wer im Parlament sitzt.“

Miriam Scharlibbe

Alle diese Leute haben Macht, unabhängig von ihrem Bankkontostand oder ihrem Beruf. Mit dieser Macht können sie darüber entscheiden, wer im Parlament sitzt. Wer „die da oben“ sind, ist zu einem großen Teil unsere eigene Schuld. Das führt direkt zum nächsten Faktencheck.

In einer Demokratie sehen viele Menschen das Wahlrecht als höchstes Gut an. Doch Wählen ist auch eine Entscheidung. Freiwillig also. Doch was passiert eigentlich mit meiner Stimme, wenn ich nicht wähle? Viele Menschen glauben, dass nichts passiert. Wie eine ungenutzte Wahlkarte, die verfällt. Andere hängen Plakate auf mit Slogans wie: „Wer nicht wählt, wählt richtig.“ In Wahrheit profitieren alle Parteien von Nichtwählern, nicht nur die extremen.

Denn jede Partei kann ihr gewünschtes Prozentziel umso leichter mit weniger absoluten Stimmen erreichen, je mehr Nichtwähler es gibt. Allerdings beobachten Politikwissenschaftler und Demokratieforscher, dass gerade kleinere, extreme Parteien viele Stammwähler haben und auch gut darin sind, neue Wähler zu mobilisieren. Wenn also die großen demokratischen Parteien der Mitte Wähler verlieren, immer mehr Stimmen an extreme Parteien fallen und gleichzeitig die Wahlbeteiligung sinkt, erhalten die Rechtspopulisten mehr Prozente und damit mehr politische Mandate.

Holocaust-Überlebende rufen zur Stimmabgabe auf

Genau vor diesem Szenario haben viele Menschen derzeit Angst. Dass die EU-Wahl einen Rechtsruck widerspiegelt, der in großen Teilen der Gesellschaft bereits Realität ist. Dass die Landtagswahlen im Osten und vielleicht auch die nächste Bundestagswahl den Feinden der Demokratie mehr Macht verleihen – ironischerweise mit demokratischen Mitteln. „Nie wieder“ sei ein Versprechen, das „heute gilt; und morgen; und für immer“.

Kurz vor der Europawahl haben acht Überlebende des Holocaust in einem offenen Brief junge Menschen dazu aufgerufen, an der Europawahl teilzunehmen. Walter Frankenstein, einer der Zeitzeugen, zieht Parallelen zur heutigen Zeit. Er hat die Erfahrungen von 1932 und 1933.

„Und ich weiß, dass es damals eine ähnliche Entwicklung gab wie heute: eine schwache demokratische Regierung und eine Partei, die die Unzufriedenen versammelte“, sagte der 99-Jährige. Heute könne man das verhindern. „Deswegen dürfen junge Leute heute nicht sagen: ‚Ja, ich weiß nicht, wen ich wählen soll, deshalb gehe ich lieber gar nicht wählen.'“ Das sei das Schlimmste, was man machen könne. „Unsere Demokratie muss immer wieder aufs Neue verteidigt werden.“