Massaker von Oradour: „Ein Symbol für ungesühnte Verbrechen“
80 Jahre ist es her, dass eine SS-Division im französischen Oradour 643 Einwohner massakrierte. Kaum einer der Täter wurde bestraft. Umso wichtiger ist für die Nachfahren der Besuch des Bundespräsidenten zum Jahrestag.
Es war das tödlichste Massaker des Zweiten Weltkriegs in Westeuropa – ausgeführt von einer Panzerdivision der Waffen-SS. Sie sollte die deutschen Truppen verstärken, die seit dem 6. Juni durch die Landungen der Alliierten im Norden unter Druck geraten waren. Unterwegs rächte sie sich für erfolgreiche Aktionen der Résistance in Zentralfrankreich.
Und an diesem Weg lag das idyllische Dorf Oradour-sur-Glane. Es wurde vor genau 80 Jahren umzingelt – am 10. Juni 1944. Männer wurden in Scheunen und Schuppen erschossen, Frauen und Kinder in der Kirche erstickt und ihre Leichen verbrannt. Von den 643 Toten gab es nur sechs Überlebende.
Heute sind die Ruinen des Dorfes eine Mahnung. „Schweigen – Ruhe, Beten!“, steht auf einer Gedenktafel an der dachlosen Kirche in Oradours. Daneben sind über 300 zerstörte Häuser, verrostete Autokarosserien, Bettgestelle, Nähmaschinen zu sehen. Ladenschilder zeigen Emmas Nähstube, Luciens Friseursalon und Cafés wie „Chez Thomas“.
In den Sommerferien fuhr man mit der Straßenbahn von Limoges nach Oradour. In der Stadt gab es auch Schulen.
„Von den sieben Enkelkindern meiner Urgroßmutter blieb eines übrig“
Benoît Sadry leitet den Verband der Märtyrerfamilien: „Der 10. Juni 1944 war ein Samstag“, sagt er. „Auch Kinder meiner Familie, die eine Meile entfernt wohnten, gingen an diesem Tag in Oradour zur Schule – bis auf eines. Von ihren sieben Enkelkindern hatte meine Urgroßmutter am Ende des Tages nur noch einen Enkelsohn. Die jüngste ermordete Enkelin war vier.“ Jean, Yves, Odile: Die Namen der Ermordeten wurden später in Sadrys Familie geborenen Kindern zugeschrieben.
Nach dem Krieg werden für die wenigen Überlebenden Holzhütten gebaut. Später werden für jedes zerstörte Haus graue Häuser errichtet.
„Symbol ungesühnter Verbrechen“
Fast eine Generation habe es gedauert, bis in Oradour wieder soziales Leben eingekehrt sei, mit einem Gemeindehaus und einem Fußballverein, sagt Sadry. Doch die Täter blieben weitgehend ungestraft. Auch Oradour fühlt sich vom eigenen Staat im Stich gelassen: „Die Frage der Gerechtigkeit hat Spuren hinterlassen. Nach einem Prozess in Bordeaux 1953 etwa wurden die Verurteilten später amnestiert“, erklärt Sadry. „Und die Verurteilung eines Täters in Ost-Berlin, der damaligen DDR, hatte eher politische Gründe. Oradour ist deshalb zu einem Symbol ungesühnter Verbrechen geworden.“
Die Bundesrepublik hat keinen einzigen Täter verurteilt, auch nicht nach neueren Ermittlungen vor zehn Jahren. Umso wichtiger sei es für die Familien der Märtyrer, dass zum Jahrestag des Massakers erstmals ein Bundespräsident Oradour besuche, sagt ihr Verbandspräsident Sadry.
Steinmeier: „Freiheit muss verteidigt werden“
In seiner Rede zum 80. Jahrestag des Massakers von Oradour appellierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an die Verteidigungsfähigkeit freier Gesellschaften. „Vergessen wir nie den Wert der Freiheit – unserer Freiheit, für die so große Opfer gebracht wurden“, sagte er im Beisein des französischen Präsidenten Emmanuel Macron.
Mit Blick auf die Europawahl betonte Steinmeier: „Unsere Mission ist die Europäische Union. Gerade am Tag nach der Europawahl sage ich: Vergessen wir nie, was Nationalismus und Hass in Europa angerichtet haben! Vergessen wir nie das Wunder der Versöhnung, das die Europäische Union vollbracht hat! Schützen wir unser vereintes Europa!“
Im Namen Deutschlands drückte der Bundespräsident seine Bestürzung und Trauer über „die unbegreiflichen, grausamen und unmenschlichen Verbrechen“ aus, die Deutsche in Oradour und in Frankreich begangen hätten. Es sei beschämend, dass „Mörder ungestraft blieben und schwerste Verbrechen nicht gesühnt wurden“. Deutschland habe damit eine zweite Schuld auf sich geladen.
Zuvor hatten Steinmeier und Macron vor einer Wand mit Fotos der Opfer verharrt. Zeitgleich lasen Kinder minutenlang die Namen der Getöteten vor.
Gauck 2013 als erster Deutscher Staatsoberhaupt in Oradour
Im September 2013 war der damalige Präsident François Hollande mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck dort. „Letzterer hat im Namen Deutschlands anerkannt, was in Oradour passiert ist.“ Nun komme der höchste deutsche Repräsentant, um diese Geschichte zu teilen und Lehren zu ziehen, sagt Sadry. „Aus großem Leid entsteht etwas Konstruktives. Wir bauen eine gemeinsame Zukunft. Ein einigender Moment für die Freundschaft zwischen den Nationen.“
Der Moment wird sich auch in einer Städtepartnerschaft mit Hersbruck in Bayern und in einem von Kindern beider Städte gestalteten Wandgemälde widerspiegeln.
In der tief in die Hügellandschaft eingebetteten Gedenkstätte weist Museumsdirektorin Babeth Robert auf in den Ruinen gefundene Objekte hin: „Hier sind Gegenstände, die den Tod durch Kugeln zeigen – wie dieser durchlöcherte Kinderwagen, hier ein Amalgam aus geschmolzenen Flaschen – die Wucht des Feuers. Aber dieser intakte Kreisel zeigt auch etwas – nämlich Abwesenheit.“
Ruinen sind der Witterung ausgesetzt
Das Museum wurde erst vor 25 Jahren gegründet. Die Texte sind auch auf Deutsch verfügbar. Bis zu 300.000 Besucher kommen jährlich. Für das Märtyrerdorf nebenan wird gesammelt, denn dort ist alles Wind und Wetter ausgesetzt. „Die Ruine steht seit 1946 unter Denkmalschutz und gehört dem Staat. Die Kirche wurde restauriert“, erklärt Robert.
Auch andere Gebäude, die nach 80 Jahren sehr fragil sind, müssen stabilisiert und die Vegetation entfernt werden – und das auf zehn Hektar. „Wenn ich die Vögel höre, den Weinstock mit Trauben dort sehe, dann lebt die Natur dort weiter, wo das menschliche Leben aufgehört hat. Das ist nicht romantisch, aber ein sehr berührender Kontrast.“
Der Ort erneuert sich
Als Carole ihr Blumengeschäft öffnet, sieht sie hinter einem Kreisverkehr die Ruinen aufragen, rechts Bäume. Sie hat die Kränze für die Trauerfeier gebunden. Lilien, Löwenmäulchen, Rosen, Rittersporne – in den Nationalfarben Blau, Weiß und Rot.
Carole lebt seit über 20 Jahren in Oradour: „Wir haben gelernt, mit den Ruinen zu leben. Die Vergangenheit hat mich nicht davon abgehalten, hier ein leerstehendes Geschäft zu übernehmen. Der Ort wird erneuert. Die Stadt lebt.“ Sie bindet mehr Sträuße für Geburtstage als für den Friedhof. „Das Leben geht weiter und man muss Farbe hineinbringen.“
Stefanie Markert, ARD Paris, tagesschau, 10.06.2024 10:57 Uhr