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Mit dem türkischen Torhüter Mert Günok auf dem Sofa

Manchmal ziehe ich zum Training das langärmlige Trikot von Beşiktaş Istanbul an. Einmal sprach mich ein türkischer Gastspieler an, er spielt eigentlich in der türkischen Autorennationalmannschaft, trainierte aber bei uns mit. „Mert Günok!“, sagte er. Ich sah ihn fragend an. „Auf deinem Trikot: Mert Günok, harika, super!“, er zeigte auf die Unterschrift.

Eine türkische Freundin hatte das Trikot als Geschenk zu meiner Theaterpremiere in Istanbul mitgebracht. Diese Freundin ist mit einem schon etwas älteren Mann zusammen, und der ist der Vater von Mert Günok, dem türkischen Nationaltorwart, die Unterschrift war also von ihm, das war mir gar nicht bewusst.

Irre aufgeregt

Der Vater selbst war auch Torhüter (Trabzonspor) und wohnt nun seit der EM mit seiner Tochter Merve und seiner Freundin Ayse bei uns. Aus unserer Wohnung startete er zu den Spielen seines Sohns, nach Dortmund, Hamburg oder nach Leipzig.

Mein neunjähriger Sohn ist ebenfalls Torwart (E-Jugend) und bekam als Gastgeschenk das grüne, viel zu große Originaltorwarttrikot plus Handschuhe von Mert Günok aus dem Spiel gegen Georgien. Und damit saß er dann beim Spiel der Türken gegen Österreich auf dem Sofa vor dem Fernseher. Die Schule hatte eigentlich die Abendspiele verboten, aber was sollte ich machen? Ihn ins Bett schicken? Hätte ich als Kind das Originaltorwarttrikot von Sepp Maier plus Handschuhe geschenkt bekommen, hätte ich mir trotz Schule auch ein wichtiges Spiel von Sepp Maier anschauen wollen.

Geheimagent für die Salbe

Wir waren alle irre aufgeregt. Merve, die Schwester des türkischen Torwarts, berichtete uns seit Tagen, dass ihr 35-jähriger Bruder Schmerzen im Knie habe, eine Schwellung wegen einer Operation vor einem halben Jahr. Er musste schon gegen Portugal (0:3) aussetzen, aber gegen Tschechien habe er sich trotz Schmerzen ins Tor gestellt, ohne dem Trainer und der medizinischen Abteilung zu sagen, dass er nicht einmal in die Hocke hätte gehen können. Aber es seien eben die letzten großen Spiele seiner Karriere, habe er der Schwester am Telefon gesagt, er wolle unbedingt spielen!

„Dann müssen wir ihm eben heimlich jede Menge dieser Salbe ins Hotel bringen!“, sagte mein Sohn. „Wie heißt die Salbe nochmal?“

„Die heißt Kytta“, antwortete ich. Ich halte Kytta-Salbe für eine Wundersalbe, bei mir hat sie immer geholfen. „Aber das türkische Trainingslager ist im niedersächsischen Barsinghausen, das ist zu weit.“

„Dann brauchen wir einen Geheimagenten, der ihm die Salbe bringt“, erklärte mein Sohn.

Am Ende googelten wir nach Apotheken in Barsinghausen und wie Mert dort unbemerkt hinkommen könnte und nannten ihm die Rosen-Apotheke in der Hans-Böckler-Straße.

Im Achtelfinale dann ein Märchen für die Türken. In der verregneten Schlacht in Leipzig stand es kurz vor Schluss 2:1 für die Türkei. Baumgartner stieg für Österreich zum Kopfball hoch, köpfte den Ball gegen die Laufrichtung des Torhüters, doch dann: eine Parade von Mert Günok, wie sie diese EM noch nie erlebt hat! Eine „Parade des Jahrhunderts“, eine „Wunderparade“, wie sie nun in der Fachpresse beschrieben wird. „Die beste Parade, die ich je live gesehen habe“, sagte Michael Gregoritsch, der österreichische Spieler, traurig. In der Türkei waren sie überragend, Mert wurde mit Spider-Man verglichen, mit einem Oktopus.

Der Vater rief unter Tränen aus Leipzig an. Auch die Schwester, die immer gleich hinter der Spielerbank sitzt, weinte vor Glück. Mein Sohn saß trotz seiner leicht müden Augen staunend vor dem Wunder auf dem Sofa und meinte beim Zubettgehen, Mert sei bestimmt in der Rosenapotheke. Irgendwann schlief er dann im großen grünen Trikot des türkischen Torwarthelden ein.

Von Moritz Rinke „Ich könnte stundenlang hier sitzen und auf den Rasen schauen – Liebeserklärungen an den Fußball“ ist soeben im Kiepenheuer & Witsch-Verlag erschienen.