Schwere Ausschreitungen gegen syrische Flüchtlinge in der Türkei
Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs hat die Türkei mehr als drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Nun kommt es in türkischen Städten zu schweren Ausschreitungen gegen Syrer – und in Syrien zu antitürkischen Protesten.
Pogromähnliche Zustände am Sonntagabend in Kayseri, einer konservativen Millionenstadt mitten in Anatolien. „Wir wollen keine Syrer mehr, wir wollen keine Flüchtlinge mehr“, riefen Demonstranten in Sprechchören. Bei Worten blieb es nicht: Zahlreiche Geschäfte, Häuser und Autos von Syrern wurden mit Steinen und Knüppeln beworfen und in mindestens einem Fall sogar in Brand gesteckt.
Und obwohl Kayseri eine Hochburg des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner AKP ist, fordern die Randalierer den Rücktritt Erdogans. Sie machen ihn für die vielen Flüchtlinge im Land verantwortlich. Und die Flüchtlinge werden beschuldigt, die Ursache für die angespannte wirtschaftliche Lage mit hohen Preisen und Wohnungsmangel zu sein.
Fast 500 Personen in Gewahrsam genommen
Am Montag weiteten sich die Proteste auf mehrere andere Städte aus, von Gaziantep an der syrischen Grenze bis nach Bursa im Westen. Die Polizei reagierte mit Wasserwerfern und Tränengas. Innenminister Ali Yerlikaya gab an, dass am folgenden Tag fast 500 Randalierer festgenommen worden seien, viele von ihnen seien vorbestraft.
In der Türkei kommt es immer wieder zu Ausschreitungen gegen Flüchtlinge. Vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr beklagte der Dachverband der syrischen Verbände in der Türkei eine zunehmende Gewalt im Wahlkampf. Sprecher Mohammed Aktar sagte der ARD-Studio Istanbul:
Ja, das sehen wir sehr deutlich. Leider war das 2019 genauso. Vor den damaligen Kommunalwahlen wurden die Syrer zum Wahlkampfthema gemacht. Man hat ihnen alles Mögliche vorgeworfen, auch in den Medien. Nach den Wahlen, 2020 und 2021, hatten wir keine Probleme. Alle Diskussionen waren in kürzester Zeit beendet.
Syrer soll Mädchen belästigt haben
Wahlen gibt es diesmal nicht. Der Grund, warum der Mob trotzdem durch die Straßen zieht, ist eine Nachricht, die sich in den sozialen Medien verbreitete: Ein Syrer soll ein siebenjähriges syrisches Mädchen sexuell belästigt haben. Der Mann wurde inzwischen festgenommen.
Doch die Gewalt endete nicht, sie wechselte die Seiten: Als Folge der Unruhen in der Türkei kommt es nun auch in Nordsyrien zu antitürkischen Protesten. „Los, Männer, los, macht die Autos kaputt!“ In einem Internetvideo, das in kurzer Zeit rund fünf Millionen Mal aufgerufen wurde, attackieren Männer am Grenzübergang Al Bab türkische Lastwagen mit Pflastersteinen, Knüppeln und Eisenstangen. Fensterscheiben werden eingeschlagen. Die Männer schreien: „Los, verschwindet! Los, geht zurück in die Türkei!“
Spekulationen über Treffen zwischen Erdogan und Assad
In den Augen der türkischen Opposition liegt der Grund für die Spannungen nicht oder nicht nur in den Vorfällen in Kayseri. Vielmehr geht es um Spekulationen über ein mögliches bevorstehendes Treffen des türkischen Präsidenten Erdogan mit Syriens Machthaber Baschar al-Assad. Beide stehen sich seit Ausbruch des Syrien-Kriegs feindlich gegenüber.
Eine mögliche Annäherung verunsichert zum einen die syrischen Flüchtlinge in der Türkei, weil sie Angst haben, nach Syrien zurückkehren zu müssen, zum anderen die türkeitreuen Rebellen in Syrien, weil sie um ihren Schutz durch Erdogan fürchten.
Am Grenzübergang Al Bab brennt ein türkischer Lastwagen.
Ein solches Treffen könnte der russische Präsident Wladimir Putin, Assads wichtigster Verbündeter, noch in dieser Woche arrangieren. Erdogan wird Putin voraussichtlich am Rande des Gipfels der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit treffen, der am Mittwoch in Kasachstan beginnt.
Christian Buttkereit, ARD Istanbul, tagesschau, 02.07.2024 16:18