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Ausländische Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor: „Ganz unten im System“ – Politik

Neulich standen da am Münchner Hauptbahnhof zwei Männer. Sie trugen Overalls und Bauhelme und schwangen Maurerkellen; eine Wand musste verputzt werden. Als jemand sie etwas fragen wollte, schüttelten sie nur den Kopf: „Ich verstehe nicht, Bulgare.“ Na ja, dann gingen sie einfach weiter.

Es sind Begegnungen wie diese, die jeden, der „Ganz unten im System“ des Berliner Journalisten Sascha Lübbe gelesen hat, umdenken lassen. Haben die beiden Arbeiter vom Hauptbahnhof einen ordentlichen Schlafplatz oder schlafen sie auf einer verschimmelten Matratze? Bekommen sie den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn oder werden sie darum betrogen? Und wie lange haben sie ihre Kinder, wenn sie denn welche haben, nicht gesehen?

„Die Unsichtbaren“ nennt Lübbe die 1,1 Millionen Menschen aus dem Ausland, aus Polen, Rumänien, Bulgarien, der Ukraine, dem Irak und Usbekistan, die rund ein Drittel des Niedriglohnsektors ausmachen. Sie machen die Arbeit, die sonst niemand in Deutschland machen will. Sie zerlegen Schweinehälften am Fließband, schleppen Zementsäcke auf Baustellen, liefern Lebensmittel aus und fristen ihr Leben als Lkw-Fahrer auf der Autobahn.

Man sieht Menschen, aber man erfährt nichts über sie

Mit seinem Begriff der „Unsichtbaren“ trifft Lübbe den Nagel auf den Kopf: Zwar sind die ausländischen Arbeiter leicht zu erkennen: Man begegnet ihnen im Büro, wenn die Reinigungskolonne putzt, oder an der Haustür, wenn man Pakete entgegennimmt. Doch diese Begegnungen haben immer etwas Flüchtiges; man erfährt nie, wer diese Menschen sind, wie sie leben, was ihre Geschichte ist.

Das kann durchaus als Problem gesehen werden, schon allein deshalb, weil ausländische Arbeitskräfte angesichts eines ausgelaugten Arbeitsmarktes immer wichtiger werden. „Es ist, als lebten sie in einer Parallelwelt“, schreibt Lübbe und an anderer Stelle: „Aber ohne sie geht hierzulande fast nichts.“ Das mag etwas übertrieben sein, ist aber nicht falsch. 400.000 Menschen müssten netto jährlich einwandern, damit Deutschland den Arbeitskräftemangel in den Griff bekommt, hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung berechnet.

Einige Dinge laufen furchtbar schief

Die große Stärke von „Ganz unten im System“ besteht darin, dass der Autor dem Leser die Parallelwelt des Unsichtbaren eröffnet – jene Welt, die der Soziologe Gerhard Bosch die „hässliche Kante“ des deutschen Wohlstands nennt. Lübbe geht dorthin, wo es hart zugeht und manchmal stinkt. Er folgt den Arbeitern in Schlafsäle, in denen das Waschbecken mal wieder voller Erbrochenem ist; er begegnet ihnen in engen Wohnungen mit Wasserflecken an den Wänden und auf Rastplätzen, wo Lastwagenfahrer das Wochenende in ihren Taxis verbringen, weil der Chef das Hotel nicht bezahlen will.

Nicht nur ein Parkplatz, sondern für viele Lkw-Fahrer auch Schlaf- und Wochenendplatz: eine Autobahnraststätte in Brandenburg. (Foto: Ralf Hirschberger/dpa)

Nach und nach lernt man viele Menschen kennen, deren Geschichten erahnen lassen, dass im Land der sozialen Marktwirtschaft einiges gewaltig schief läuft: Da ist Marian aus Rumänien etwa, der sich selbst die Zähne zieht, weil er keine Ahnung hat, wie er zu einem Arzt kommt. Da sind Eugen und Petre, ebenfalls aus Rumänien, die mit falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt wurden und dort täglich mehr als zehn Stunden am Fließband einer Fleischfabrik schuften. Da sind Bauarbeiter, die auf ihren Lohn warten und LKW-Fahrer aus Usbekistan, die ihre Kinder nur vom Handy-Bildschirm kennen.

Lübbe erzählt die Geschichte dieser und einer Reihe weiterer Menschen in klarer, präziser Sprache, und es gelingt ihm, die Einzelschicksale mit den politischen, wirtschaftlichen und juristischen Hintergründen zu verknüpfen. Damit erinnert er an die Berliner Autorin Julia Friedrichs, die bereits mehrere erfolgreiche Bücher über die Arbeiterklasse und soziale Ungleichheit veröffentlicht hat.

Auch Arbeitgeber und Subunternehmer kommen zu Wort

Der Autor konzentriert sich nicht nur auf die deprimierenden Geschichten der ausländischen Arbeiter, sondern geht auch zu anderen Akteuren im System. Er spricht mit Arbeitgeberverbänden und Subunternehmern, mit Gewerkschaftern und Sozialarbeitern, er begleitet ein Zollteam, das die Betriebe kontrollieren soll. Und er trifft EU-Politiker, die die Lage für einen Teil der Arbeiter verbessern wollten, aber an Parlamentariern mit anderen Interessen scheiterten.

Sascha Lübbe: Ganz unten im System. Wie Wanderarbeiter unseren Wohlstand sichern. Hirzel-Verlag, Stuttgart 2024. 208 Seiten, 24 Euro. (Foto: Hirzel-Verlag)

Lübbe entwirft Satz für Satz ein Bild, das zeigt, wo die Ursachen für die prekären Verhältnisse liegen. Da sind etwa die langen Ketten der Subunternehmer auf dem Bau: Ein Auftrag wird von Firma zu Firma weitergereicht, jede behält einen Teil der Bezahlung als Provision ein – und am Ende hat die Firma, die den Auftrag tatsächlich ausführt, zu wenig Geld, um die Beschäftigten fair zu bezahlen. Da sind die Kontrollen der Arbeitsbedingungen, die zu selten stattfinden, und Regeln, die leicht umgangen werden können. Und da sind die großen Abhängigkeiten der Beschäftigten: Ihre Wohnung oder ihre Aufenthaltserlaubnis ist oft von ihrem Job abhängig. Rebellieren sie, riskieren sie ihre Kündigung – und damit Obdachlosigkeit oder die Ausreise aus Deutschland. Das erklärt auch, warum die Gewerkschaften hierzulande kaum Zugang zu ausländischen Arbeitnehmern haben.

Wenn man Lübbe kritisieren will, dann für ein oder zwei etwas zu lange historische Exkurse; oder für eine Passage über die Natur des Lobbyismus in Deutschland, die keine wirklich neuen Erkenntnisse bietet. Dass einem das auffällt, zeigt nur noch deutlicher, wie aufschlussreich die anderen Seiten sind. Verbesserungen sind möglich, so das Fazit dieses Buches – wenn sich nur mehr Menschen der Interessen der „Unsichtbaren“ annehmen würden.