Parallel zur Europawahl finden in Belgien Parlamentswahlen statt – und die Regierungsbildung in dem sprachlich und politisch gespaltenen Land dürfte schwierig werden. Eine rechtsextreme Partei könnte stärkste Kraft werden.
Wenn Belgien wählt, sind Dystopien nicht weit, die Belgier selbst zelebrieren sie aber mit viel Selbstironie, ohne sie am Ende allzu ernst zu nehmen: Das Land werde irgendwann zusammenbrechen, heißt es in den Polit-Talkshows des Landes, schlimmer könne es nicht mehr kommen, und die Regierungsbildung nach der Wahl werde diesmal noch länger dauern als 2019 – nach der letzten Parlamentswahl, als nach knapp 18 Monaten eine neue Koalitionsregierung gefunden war. Diese ist mit sieben Parteien unter Führung des Liberalen Alexander de Croo bis heute im Amt.
Die Schwierigkeiten bei der Bildung stabiler Regierungen führten in der Vergangenheit alle Parteien auf den komplizierten Status des Landes mit 11,5 Millionen Einwohnern und drei Regionen – Flandern, Wallonien und Brüssel – zurück, die viel unabhängiger sind als deutsche Bundesländer. Doch das ist nur die halbe Wahrheit – denn Belgien und seinen drei Regionen ist es gelungen, die unterschiedlichsten sprachlichen und administrativen Interessen so auszubalancieren, dass das Land gut funktioniert.
Der derzeitige Regierungschef de Croo – hier bei der Stimmabgabe – könnte nach der Wahl sein Amt verlieren.
Vier Parlamente, drei Sprachen, zwei Dutzend Parteien
Die meisten Belgier, ob aus dem niederländischsprachigen Flandern oder dem französischsprachigen Wallonien, sind stolz auf ihre Vielfalt. Zwar entwickelt sich erst langsam eine einheitliche Parteienlandschaft, doch sind in allen Regionen alle wichtigen politischen Strömungen vertreten. Allerdings ist es bei vier Parlamenten, drei Sprachen und über zwei Dutzend Parteien nicht leicht, Orientierung zu finden, wenn die Parteienlandschaft zwar der Staatsstruktur folgt, aber kein gemeinsames Dach bietet.
Der Wahlkampf war wild und bunt. In der Wahlarena des belgischen Fernsehens stellten sich der liberale Regierungschef de Croo und seine Herausforderer den Fragen des Publikums. Eine davon lautete: Welchen Ihrer Konkurrenten würden Sie wählen, wenn es Ihre eigene Partei nicht gäbe? Das quälende und mühsame Ringen um keine Antwort amüsierte ganz Belgien. Gleiches gilt für die neueste Parteischöpfung „Blanco“, die damit wirbt, mit ihr „freie Sitze“ im Nationalrat besetzen zu können.
„Parteilandschaft ist ein Labyrinth“
„Die belgische Parteienlandschaft ist ein Labyrinth“, erklärt der Antwerpener Politikwissenschaftler Dave Sinardet. Politische Äußerungen während des Wahlkampfs dürften nicht allzu ernst genommen werden – „später werden sie oft vergessen oder verdreht“. Im belgischen Sender „VRT“ erinnerte er an den Ausspruch des früheren deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer: „Was interessiert mich, was ich gestern gesagt habe?“
Alle Belgier können sich köstlich darüber amüsieren, was das Ausland aus ihnen macht. Sinardet zeigt seinen Schülern gern eine verpatzte Infografik eines französischen Senders, die Belgien repräsentieren soll: Flandern und Wallonien seien auf der Karte vertauscht und Brüssel liege nicht dort, wo es hingehöre: „Sehen Sie, es gibt noch ein kleines Detail in unserem Staatsgefüge, das unsere großen Nachbarn noch nicht ganz begriffen haben.“
Rechtspopulisten kann Gewinne erwarten
Obwohl die Belgier im Zweifel zusammenhalten, könnte das Land nach der Wahl politisch Kopf stehen. Der liberale Premier de Croo könnte sein Amt an Bart de Wever von der Neuen Flämischen Allianz verlieren – dem de Croo vorwirft, er glaube „nicht an Belgien“ und wolle dem finanziell schwächeren Wallonien die Gelder entziehen.
Stärkste Partei könnte der rechtspopulistische Vlaamse Belang (Flämisches Interesse) werden, mit dem bislang niemand koalieren wollte. Selbst wenn es nicht dabei bleibt, haben die gemäßigten Nationalisten wohl eher Chancen, Partner zu finden, zumal der Vlaamse Belang kaum kompromissbereit ist. Das Motto ihres Parteichefs Tom Van Grieken: „Flandern zahlt, Wallonien entscheidet. Das muss aufhören.“
Tom Van Griekens Partei Vlaamse Belang kann bei der Wahl mit Zugewinnen rechnen.
Der wallonische Polit-Veteran Paul Magnette hört solche Töne nicht gern. Der Sozialist und seine Partei gelten als wallonisches Gegengewicht zu jenen flämischen Parteien, die Veränderungen bei der Finanzverteilung zu Lasten Walloniens wollen. Die nicht gerade guten Wirtschaftsaussichten könnten letztlich beide Seiten stärken und die Parteienlandschaft polarisieren. Im Sender VRT erklärte der frühere Präsident der Universität Leuven, Ric Torfs, eine Regierung könne nur dann stabil sein, wenn sich nicht die eine Seite des Landes als Bittsteller und die andere als Zahlmeister fühle.
Moderater Nationalist als künftiger Premier?
Politisch einflussreich wird die Neue Flämische Allianz auf Bundesebene auf jeden Fall sein. Die wallonischen Sozialisten unter Magnette können sich eine Koalition durchaus vorstellen – allerdings nur, wenn die gemäßigten Nationalisten aus Flandern Abstand zum rechtspopulistischen Vlaamse Belang halten.
Die Rechtspopulisten hingegen werden angesichts der Teilung des Landes wohl auch bei einem deutlichen Erstarken keine Regierung mit ihnen bilden können. Sie gelten bislang – ebenso wie die AfD – als nicht koalitionsfähig. Künftiger belgischer Premier könnte ein gemäßigter Nationalist werden: Bart de Wever von der Neuen Flämischen Allianz, der gemeinsam mit den frankophonen Sozialisten eine neue Koalition mit anderen Partnern bildet.
Könnte de Croos‘ Nachfolger Bart de Wever von der Neuen Flämischen Allianz werden?
So etwas geschah 2014 unter umgekehrten Umständen – mit einem Sozialisten (Elio di Rupo) an der Spitze der Regierung. Damals scheiterte de Wever in der Koalition. Er könnte bald an der Spitze des Landes stehen.
Andreas Meyer-Feist, ARD Brüssel, tagesschau, 09.06.2024 14:24