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«Wir sind die Schweiz» – Endlich interessiert die Nati wieder

Am Samstag schaut das ganze Land auf die Nationalspieler. Mit dem Erreichen des EM-Halbfinals gegen England können sie für einen Schweizer Sport-Glanzmoment sorgen.

In Deutschland scheint der Schweizer Fußball derzeit immer hungriger zu werden und ist noch lange nicht am Ende seiner Laufbahn angelangt.

In Deutschland scheint der Schweizer Fußball derzeit immer hungriger zu werden und ist noch lange nicht am Ende seiner Laufbahn angelangt.

Peter Klaunzer / Keystone

Wer von der S-Bahn-Station Waldau hinauf zum schmucken Gazi-Stadion der Stuttgarter Kickers läuft, wo die Schweizer Fussball-Nationalmannschaft trainiert, weist ein grosses Plakat den Weg. «Wir sind die Schweiz», steht auf der Plane, die ein Mitarbeiter des Schweizerischen Fussballverbandes vor rund einem Monat an den Zaun gehängt haben muss. Das fand der Spaziergänger damals etwas anmassend und verkürzt, zudem sei «Wir sind die Schweiz» grammatikalisch falsch.

Über den Slogan „Wir sind Schweiz“ kann man sich einige Gedanken machen. Handelt es sich dabei um Slang der zweiten Generation? Warum fehlt der Artikel? Was könnte hinter der Adaption der berühmten „Bild“-Schlagzeile „Wir sind Papst“ stecken, als Kardinal Ratzinger 2005 zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt wurde? Geht es dabei um etwas Religiöses, etwas Kompliziertes? Man könnte auf solche Überlegungen hereinfallen, wenn noch kein Spiel gespielt ist und das Feld der Hoffnung und Angst weit offen ist. Aber seien wir mal locker: Im Fußball sind die Dinge einfach.

Ein Spiel, das Menschen zusammenbringt

Der Slogan transportiert die Möglichkeit, dass das „Wir“ nicht nur aus dieser Schweizer Fussballmannschaft bestehen könnte, sondern dass sich viele Menschen in der Schweiz diesem „Wir“ zugehörig fühlen, und bei Erfolg vielleicht sogar ein Grossteil der Bevölkerung, zumindest für die Dauer eines Fussballspiels. In den Tagen und Wochen seit dem ersten Spaziergang durch die Stuttgarter Waldau zum Trainingsgelände hat es die Nationalmannschaft geschafft, Menschen in der Schweiz für sich zu begeistern.

«Wir wollen, dass die Schweizer stolz auf uns sind», ist einer jener Sätze, die Funktionäre vor sportlichen Grossereignissen stets verwenden. Auch der Nationalmannschaftsdirektor Pierluigi Tami benutzte diesen Satz, als er über die EM-Ziele einer Mannschaft sprach, die in den vergangenen Jahren zwar regelmässig die Gruppenphase überstanden hatte, dann aber, mit einer Ausnahme, ebenso regelmässig in den Ausscheidungsspielen hängen blieb.

«Stolz» ist kein unproblematisches Adjektiv, man könnte auch schlicht sagen, «Freude» sei das Ziel: Die Freude an einer Mannschaft, die schönen Fussball spielt, bei dem jeder jedem hilft, einen Fussball, der bei Public Viewings und vor den TV-Geräten im ganzen Land unterhält, berührt und zusammenbringt. Letzteres wird der Fall sein, wenn die Schweizer am Samstagabend ab 18 Uhr vor den Augen der Welt in Düsseldorf gegen England um den Einzug ins Halbfinale der EM spielen.

Vor dem EM-Start der Eidgenossen gegen Ungarn sah es nicht danach aus, als würde es soweit kommen: Leute, die sich nicht sonderlich für Fussball interessieren, reden nun über Murat Yakin, den Trainer mit den stylischen Pullis und der coolen Filmstar-Brille aus dem Optikergeschäft in Höngg. Sie reden über den Goalie Yann Sommer und seine leuchtenden Handschuhe. Einer Grossmutter wird erzählt, dass wegen der Fussballer überall Schweizer Fahnen wehen, so wie am 1. August. Und es wird lebhaft diskutiert über die Überraschung, warum die Spieler aus Italien, wo doch fast nichts wichtiger ist als Calcio, in Berlin nicht gegen die Eidgenossen gewinnen konnten. Liegt es daran, dass die Schweizer Fussballer so gut sind?

Die Eidgenossen waren immer wieder bei wichtigen Turnieren zu Gast, wenn die ganz Großen im Fußball wie Deutschland, Spanien, Italien, Frankreich, Brasilien oder Argentinien um die Vormachtstellung wetteiferten. Für diese Konstanz hat die kleine Schweiz viel Anerkennung bekommen. Doch mit dem Respekt vor den ganz Großen ging auch immer die Selbstsicherheit einher, dass die Kleinen im Kampf um den Titel kein wirklich ernstzunehmender Gegner sein könnten. Das scheint sich in den letzten Wochen geändert zu haben.

Über diesen Murat Yakin, den Trainer mit der coolen Filmstar-Brille aus dem Optikergeschäft Höngg, reden mittlerweile sogar Leute, die sich nicht sonderlich für Fussball interessieren.

Über diesen Murat Yakin, den Coach mit der coolen Filmstar-Brille aus dem Optikergeschäft Höngg, reden mittlerweile sogar Leute, die sich nicht sonderlich für Fussball interessieren.

Nick Potts / Imago

Die Generation um Captain und Leader Granit Xhaka ist mit Coach Murat Yakin so weit zusammengefunden, dass sie nach sechs Achtelfinalteilnahmen nun bereit für den nächsten Schritt ist. Die Spieler haben gelernt, dass man, um weiterzukommen, keine Energie an Nebenthemen verschwenden darf. Gefärbte Haare, Tattoos in Corona-Zeiten, Double Eagles, Jashari-Trikots, Zweitgenerationsdebatten und anderes waren in der Vergangenheit Stolpersteine, die sich die Schweizer in Deutschland derzeit nicht in den Weg legen.

Als sie vor drei Jahren erstmals in der Neuzeit den Viertelfinal eines großen Turniers erreichten und in einer seltsam gespenstischen Atmosphäre in St. Petersburg im Penaltyschießen an Spanien scheiterten, hatten die Schweizer eine Reise mit Höhen und Tiefen hinter sich. Nun scheint das Team hungriger zu werden und ist noch lange nicht am Ende der Reise angelangt.

Für unvergessliche Momente auch in zwanzig Jahren

Vielleicht können die Schweizer Fußballer dem Land nach ihrem wundervollen Sieg gegen Italien in Düsseldorf noch einmal einen Moment der Freude schenken, an den sich die Menschen auch in zehn oder zwanzig Jahren noch erinnern werden. Das Tolle am Sport ist, dass er die Fähigkeit besitzt, solche Momente für das kollektive Gedächtnis zu schaffen. Und zwar auf eine andere Art als biografische oder politische Meilensteine.

In solchen unschuldigen Momenten verbindet der Sport die Menschen, er bringt sie zusammen. Gerade die Unberechenbarkeit eines Spiels wie Fußball kann augenblickliche Momente der Gemeinschaft schaffen, die den Alltag erleichtern, von Schwierigkeiten und Problemen. Erinnern wir uns noch daran, wie Yann Sommer den Elfmeter gegen Kylian Mbappé hielt? Wo waren wir? Werden wir uns an den Moment erinnern, als Englands Torhüter Jordan Pickford gegen Xherdan Shaqiris entscheidenden Schuss vom Elfmeterpunkt keine Chance hatte?

«Wir sind die Schweiz» – vielleicht erzählt der Slogan auf dem Plakat in der Waldau dereinst im Sommer 2024 von solchen Schweizer EM-Momenten. Also von Momenten, in denen die Fussballer aus der Schweiz zeigten, dass sie gemeinsam mehr erreichen können als jeder Einzelne alleine. Egal, ob man gross oder klein ist, welche Hautfarbe man hat, welche Sprache man spricht – oder wie streng die Grammatik ist.